Totschlag vor dem Bruderkuss

Nachtrag zum deutsch-französischen Freundschaftsjubiläum

Nun ist es also verklungen, das Festspielgetöse zum deutsch-französischen Freundschaftsbund. Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die Erbfeindschaft der Erbfreundschaft wich. Pauken und Trompeten sind dieser Tage kaum zur Ruhe gekommen. Und man konnte sicher sein, dass nirgends offiziell die tatsächliche Begleitmusik für das benannt worden ist, was wir heute Freundschaft zwischen beiden Ländern nennen.

Schalmeien sollen es übertönen. Die deutsch-französische Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg gründete sich auf Leichenberge. Beim verbrecherischen Versuch Frankreichs, nach 1945 seine Kolonie Indochina wieder zurückzuerobern, haben Zehntausende Deutsche geholfen. Als dieser Vorgang zehn Jahre später in Algerien wiederholt wurde, waren es nur noch Tausende Deutsche, die dort auf Befehl der Franzosen ausführten, was sie in Hitlers Wehrmacht, Gestapo, SS, Sicherheitsdienst gelernt hatten. Wenn ein Nazi in die Fremdenlegion eintrat, schauten die Franzosen bei dessen Vergangenheit nicht mehr so genau hin. Verbrecher konnten sich auf diese Weise von ihren Taten reinwaschen. Mit Vietnamesenblut.

Richtig – es gab keine offizielle Beteiligung der Bundesrepublik an diesen Untaten. Aber Duldung, Wegschauen und Passivität können ebenfalls komplizenhafte Potenziale entfalten, darüber belehrt uns der Verlauf des 20. Jahrhunderts ausführlich. Niemals hat sich die Bundesrepublik bei ihrer Annäherungspolitik gegenüber Frankreich von dessen verbrecherischer Kolonialpolitik stören oder auch nur irritieren lassen. Niemals wurden heimgekehrte Fremdenlegionäre zur Verantwortung gezogen. Beim Schmieden des unverbrüchlichen Freundschaftsbundes wurde vom Totschlag ohne Zahl, gemeinsam verübt von Franzosen und Deutschen, einfach abgesehen. Und welcher Gedanke kann hier Pate gestanden haben, wenn nicht der: Wir haben bis 1945 Verbrechen begangen – ihr begeht sie heute. Und eine Krähe hackt der anderen bekanntlich kein Auge aus.

Ganze französische Einheiten in Indochina bestanden überhaupt nur aus Deutschen, mit Ausnahme der Offiziere. Dieser Krieg, der mit der Niederlage bei Dien Bien Phu 1956 endete, hat 1,7 Millionen Menschen das Leben gekostet, Menschen, die um ihre nationale Freiheit gekämpft hatten und sich nicht länger von den Europäern unterdrücken lassen wollten. Deutsche haben also auch nach dem Zweiten Weltkrieg in französischen Uniformen massenweise gemordet. Die deutsch-französische Aussöhnung gründete sich auf Millionen abgeschlachtete Asiaten und Afrikaner.

Wäre das jetzt ein Fall für unsere Aufarbeitungsindustrie, die seit zwei Jahrzehnten sich Tag für Tag die DDR vorknöpft? Weit gefehlt. Nichts würde ihr ferner liegen. Niemand im heutigen Frankreich, von Rechtsextremen vielleicht abgesehen, fände sich bereit, diese 20 Jahre andauernden Kolonialmassaker noch zu verteidigen. Genauso wenig jedoch sind unsere Aufarbeiter bereit, Verbrechen in die Untersuchung einzubeziehen, wenn sie vom freien Westen begangen wurden. Denn in diesem Fall müsste etwas einsetzen, was hinter die gesamte Aufarbeitungspolitik seit 1990 ein Fragezeichen setzen würde. Es würde sich der Vergleich mit den DDR-Verbrechen aufdrängen. Dann müssten diese Tugendwächter die simple Tatsache zugeben, dass die Verbrechen des Westens schlimmer, grauenhafter und mörderischer gewesen sind als die der DDR.

In diese Falle dürfen sie nicht laufen. Dieser entscheidenden Wahrheit wird im heutigen Deutschland kein Fußbreit zugestanden. Der Frevel an der historischen Wahrheit, der mit diesem Vorgehen verbunden ist, lässt sich kaum überschätzen.

Von Matthias Krauß