Ein Steinbruch guter Ideen

Wo die Bundesrepublik sich die DDR zum Vorbild nahm

Als Bundeswissenschaftsministerin Annette Schavan (CDU) kürzlich ihre neueste Errungenschaft pries, das nunmehr eingeführte Leistungsstipendium, hielt sie es für erwähnenswert, dass »erstmals« an deutschen Hochschulen und Universitäten dieses Instrument zum Einsatz gelangen könne. Natürlich ist das einer dieser Sätze, mit denen man sich in Ostdeutschland blamiert. Frau Schavan hätte einfach mal mit ihrer Chefin Angela Merkel reden sollen; die Trägerin der Lessing-Medaille hätte ihr etwas von Leistungsstipendium zu DDR-Zeiten erzählen können. Dieses Leistungsstipendium aber ist mehr, ist das vorerst letzte Glied in einer beeindruckenden Serie von Beispielen, in denen die Bundesrepublik jene Auffassungen, Grundsätze und Formenelemente, Regeln und Gepflogenheiten einführte oder sogar übernahm, die zuvor in der DDR entwickelt bzw. praktiziert worden waren. Ungeachtet aller Repression, weltanschaulicher Einseitigkeit, offenkundiger Ablehnung der Demokratie in ihrer westlichen Variante und dem Verrammeln von Türen Richtung Westen galt also für die DDR auch dies: Sie hat jede Menge Türen aufgestoßen, durch welche die Bundesrepublik ihr viel später folgte. Nicht nur auf das Leistungsstipendium trifft zu: Der »Unrechtsstaat« dient bis heute als ein Steinbruch guter Ideen.

Nicht immer hatte die DDR in einem so offensichtlichen Sinne wie bei der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als verbindliche deutsche Ostgrenze ohne Wenn und Aber die Nase vorn. Aber gerade in diesem Falle handelte es sich um einen entscheidenden und sehr symbolträchtigen Punkt. Was 1950 einer der ersten diplomatischen Akte der DDR war, das war 1990 einer der letzten der alten Bundesrepublik: eine identische staatspolitische Handlung mit 40-jähriger Verzögerung.

Die Annäherung an DDR-Positionen durch die Bundesrepublik erfolgte daneben vor allem auf Feldern, die tief in das praktische Leben eingriffen. Ausdruck dafür war der kürzlich medial überaus breit gefeierte 100. Internationale Frauentag. Seltsam: 20 Jahre ist dieser Frauentag als Ostfolklore und zu belächelndes DDR-Relikt abgetan worden. Warum eigentlich? Vielleicht, weil der östlich gelegene Staat im Punkt Frauenrechte der Bundesrepublik Epochen voraus gewesen ist? Mit dem erklärten Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« kam die DDR zur Welt. Bis heute müht sich Deutschland vergeblich, hier halbwegs gerechte Verhältnisse herzustellen.

Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe galt in der DDR von Anfang an; in der Bundesrepublik war es bis 1976 Gesetz, dass ein Mann seiner Frau die Berufstätigkeit verbieten konnte. Ehe – das bedeutete 30 Jahre lang in der BRD Entrechtung der Frau – vor allem in finanzieller Hinsicht. Wollte sie ein Konto eröffnen, musste das Einverständnis des Ehemanns vorliegen. Die DDR hat noch unter Justizministerin Hilde Benjamin das Schuldprinzip bei der Ehescheidung durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt – eine Generation später fand auch die Bundesrepublik sich bereit, hier zu entrümpeln. Benjamin hatte unumwunden erklärt: »Das Recht, das wir schaffen, muss das Recht der berufstätigen Frau sein.« Freilich ging die Bundesrepublik nicht so weit, den monatlich für Ehefrauen gewährten und bezahlten DDR-Haushaltstag einzuführen.

Das Nazi-Ideal vom alleinverdienenden, allmächtigen männlichen Familienführer – in der frühen Bundesrepublik begeistert hochgehalten – verlor irgendwann in der Muffigkeit des Adenauer-Staates seinen Glanz. Die berufstätige Frau und ihre Ansprüche haben sich inzwischen – mit den bekannten Verzögerungen gegenüber dem sozialistischen deutschen Staat – auch in ihr durchgesetzt. Und nicht nur das: Einen ganzen Blumenstrauß von politischen, geistigen und gesellschaftlichen Positionen hat die Bundesrepublik von der verachteten und gehassten DDR übernommen – beziehungsweise Regelungen nachgeholt, die in der DDR schon längst üblich waren.

Die niederträchtige Benachteiligung unehelich geborener Kinder im Erbrecht wurde in der DDR abgeschafft – in der BRD war das noch lange danach Bestandteil der »heiligsten Güter«. Prügel in der Schule war schon in der Sowjetischen Besatzungszone – und zwar von Anfang an – verboten. In der Bundesrepublik wurden diesbezüglich die letzten Reste 1980 beseitigt.

Überhaupt das Schulwesen. Ein Atavismus reinsten Wassers. Von Staatsbürgerkunde und Wehrerziehung abgesehen, gibt es an den brandenburgischen Schulen nun alle DDR-Formenelemente wieder, die 1990 von Bildungsministerin Marianne Birthler mit großem Schwung auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurden: Leistungsforderung, Verhaltensbewertung, Erziehungsauftrag der Schule, Abschlussprüfungen und »sinnvolle Freizeitgestaltung« am Nachmittag. Dass man Kindern ein gesundes Schulessen anbietet, war in der DDR selbstverständlich, in Ostdeutschland ist das nach der Wende so geblieben, und im Westen bequemte man sich auch nach und nach zu diesem Schritt. Ein flächendeckendes System von Kinderkrippen und –gärten entsteht nun auch im Westteil der Bundesrepublik – 50 Jahre nachdem die DDR das geleistet hat. Zur verabreichten DDR-Frühstücksmilch reicht es freilich immer noch nicht. Zwischen ihr und den Kindern steht in der heutigen Schule der Süßigkeitenautomat.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass die DDR konsequent jenen Schichten die Türen zu höherer Bildung öffnete, denen das bislang verwehrt geblieben war. Das musste angesichts begrenzter Kapazitäten auf Kosten der traditionell Privilegierten gehen. Die Bundesrepublik zog im Übrigen nach und entwickelte – wenngleich viele Jahre später – diesbezüglich ein Gewissen. Das Bafög sollte auch Jugendlichen aus traditionell »bildungsfernen« oder ärmeren Elternhäusern das Studium ermöglichen. Allen Studierenden ein Stipendium zu gewähren, das sie vom Elternhaus finanziell unabhängig macht und ihnen die Befriedigung der Grundbedürfnisse ermöglichte, wie die DDR es nach 1970 tat, lag und liegt nach wie vor außerhalb der bundesdeutschen Vorstellungskraft.
Verweilen wir beim Blick auf die jüngere Vergangenheit bei den deutschen Faschisten und ihren willigen Vollstreckern, die nach dem Krieg staffelweise hohe und höchste Entscheidungspositionen des Bonner Staates stürmten. Der Rechtsstaat Bundesregierung verfuhr – mit Billigung eines Großteils der demokratischen Gesellschaft – nach der Regel »Den Opfern die Denkmäler, den Mördern die Pensionen«. Damit wird nun nicht mehr geprahlt. Und man kann aus vorsichtig formulierten Texten inzwischen sogar herauslesen, dass der Umgang mit Nazitätern und –taten in der BRD kein Ruhmesblatt der deutschen Geschichte ist, um nicht zu sagen eine Schande, und dass er eine Verhöhnung der Naziopfer darstellte. Die Selbstbezichtigung des Bundesgerichtshofs von 1995 mit Merkmalen einer Selbstanklage sei hier als Beispiel zitiert. In einem Urteil räumte das Gericht ein, dass nach 1949 »an weiteren Strafverfolgungen von NS-Verbrechen kein Interesse« (mehr bestand). Es habe in der Bundesrepublik Deutschland eine »Selbstamnestierung der Justiz für ihre eigenen Taten« stattgefunden. Und das Bekenntnis schließt: »Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes.«

»Spät kommt ihr. Aber ihr kommt« (Schiller). Was diesen Punkt betraf, hat sich die DDR nie korrigieren müssen. Sie hat KZ-Gedenkstätten eingerichtet, als die Politik im Westen nicht im Traume daran dachte. Mit Filmen wie »Ehe im Schatten«, »Sterne«, »Professor Mamlock«, »Nackt unter Wölfen«, »Die Bilder des Zeugen Schattmann«, »Jakob der Lügner« hat sie den Völkermord an den Juden angeprangert und die Täter benannt. Die Hände Westdeutschlands sind diesbezüglich praktisch leer. Was in der Bundesrepublik Ende der 70er Jahre einsetzte und bis heute anhält, trug und trägt Nachholcharakter.

Thema Gesundheitswesen. Mit Blick auf den heutigen Ausstattungsgrad der Kliniken und die Umgangsformen in ihnen wünscht sich niemand die DDR-Spitäler zurück. An die kostenlose Pille, an damals großzügig gewährte Kuren für arbeitende Menschen muss man keinen Gedanken mehr verschwenden – das war alles sehr schön, kehrt aber nicht wieder. Man muss schon froh sein, wenn die in der DDR eingeführte jährliche Schuluntersuchung heute noch durchgeführt wird und wirklich alle Kinder erfasst. Sicher sollte sich da niemand sein. Geblieben sind als Vorbild auch die DDR-Polikliniken, ihr medizinwissenschaftlich enorm wichtiges Krebsregister und nun auch wieder die Gemeindeschwestern als Träger des Gesundheitswesens auf dem Lande.

Die Aufstellung über gewisse Nachahmeffekte erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch sei am Rande erinnert an die in der DDR entwickelte Altstofferfassung und –verwertung, die offenbar so überzeugend war, dass ihr Pfandflaschensystem vom vereinten Deutschland seit Mitte der 90er Jahre kopiert wurde. Oder daran, dass die DDR 1958 mit der »Messe der Meister von Morgen« ihren landesweiten Technik-Wettbewerb schuf und erst sieben Jahre später die Bundesrepublik mit »Jugend forscht« nachzog. In der DDR gab es das erste funktionierende deutsche Kernkraftwerk, die erste deutsche Filmhochschule – und sogar den weltweit ersten wissenschaftlichen Lehrstuhl für Rockmusik. Merkwürdig, aber wahr: Die FDJ-Auflagen für die ersten Rockgruppen (Wenn Beat sein muss, dann singt bitte deutsch) sind heute und hierzulande für einen großen Teil der Rock- und Popmusiker eine Selbstverständlichkeit.

Zum Abschluss zurück zum vergleichenden Blick auf das Frauenbild. Eine sachliche Analyse der Arbeits- und Lebensbedingungen von Genossenschaftsbäuerinnen in der DDR und von für die Bundesrepublik typischen »mithelfenden Ehefrauen« in der Landwirtschaft ergäbe eine eindeutige Vorteilslage für die DDR-Bürgerin. Die DDR hatten den ersten weiblichen deutschen TV-Kriminalpolizisten (Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt im »Polizeiruf 110«). Und sie war es, die in den 80ern Frauen den Weg in die Streitkräfte eröffnete.

All diese Beispiele machen Unrecht und Mangelerlebnisse in der DDR nicht wett und sind auch keine Rechtfertigung für sie. Die DDR war ein Mix aus Erbärmlichkeit und Großartigkeit. Vorteile und Nachteile bildeten in ihr ein fest verschnürtes widerspruchvolles Ganzes. Sie ergaben sich auseinander. Das trifft übrigens auf die Bundesrepublik – damals wie heute – auch zu. Was ist vor diesem Hintergrund wünschenswert? Nein, nicht, dass die DDR wiederkehrt. Sondern dass die heute dominierende ärmliche Einseitigkeit im offiziellen Geschichtsbild einer Geschichtsbetrachtung weicht, welche diese Bezeichnung auch verdient.

Matthias Krauß

(veröffentlicht im Neues Deutschland 14.05.2011)